Die stummen Zeugen
Geht man den Spuren der Solinger - Kotten Geschichte nach, stößt man auf einen angenehmen Begleitumstand. So hat man neben der Einsicht in Archive und deren Fachliteratur noch die Möglichkeit einige wenige dieser alten Produktionsstätten des Solinger Schneidwarenhandwerks an Ort und Stelle zu besichtigen. Die stummen aber anschaulichen Denkmäler einer längst vergangenen Epoche liegen beinahe ausnahmslos im romantischen Tal der Wupper, an ruhigen Wanderwegen und Bachläufen, oder den idyllischen Hofschaften. Die Errichtung der Kotten und die Anfänge des Solinger Schneidwarenhandwerks sind als geschichtlicher Zeitraum im Detail nicht ganz genau zu erfassen. Über den Zuzug von Klingenschmieden (hier sind bei Klingen nur größere Produkte gemeint, nicht aber die Messerklingen) berichtet der Solinger Albert Weyersberg in einem Aufsatz des Jahres 1922. In sehr vielem stützt Weyersberg seine Erkenntnisse auf Vermutungen, die aber doch zum Teil urkundlich belegt werden können. Es wird der Zuzug der Familie Wirsberg aus der Steiermark genannt. In diesem Fall wird vermutet, daß es sich bei der Steiermark um das Stammland der Schwertschmiede Weyersberg handelt.
Bei diesen Nachforschungen von Zuzug und Namensgleichheiten, später bekannter Solinger Familien, nennt Weyersberg den Zeitraum 1552 - 1604. Im 13. Jahrhundert jedoch gab es schon Bestrebungen, einige Werkstätten am Rande der Stadt zu errichten. Die drei bekannten geschlossenen Handwerke lassen sich noch bis in das Jahr 1401 urkundlich zurückverfolgen. Die aufeinander angewiesenen Handwerke der Schwertschmiede, Härter und Schleifer wurden 1401 von dem Herzog von Berg mit einem Zunftbrief ausgestattet. So schützt dieser Zunftbrief die Härter im Besitz ihrer Arbeitsstätten, den „ Schmitten „ (Schmieden), und die Schleifer in ihren Kotten. Unter dem Begriff Kotten versteht man in Solingen nur die Arbeitsstätten der Schleifer - ohne die gleichzeitige Wohnmöglichkeit.
Der Begriff Solinger Kotten wird in der Geschichtsschreibung außerhalb Solingens häufig mit ähnlich gelagerten Begriffen verwechselt. Zum Beispiel mit der Bauernbehausung, der „ Kate „. Diese Kotten werden schon in näherer Umgebung Solingens ganz anders genannt. So nennt man sie im rheinisch - Bergischen Kreis Schleifmühlen. Dies wiederum mag wohl mit der Funktion des Solinger Kotten zu erklären sein. Die Solinger Schleif - Kotten werden, ebenso wie Mühlen über ein Rad mit Wasserkraft betrieben. Es gab aber auch Fruchtmühlen in Solingen. Als Glanzzeit der Solinger Kotten darf man die Zeit um 1684 nennen. So beweist uns ein Hebe Verzeichnis (Gebühr für die Ausnutzung des Wassers an den Landesherren) aus eben diesem Jahr, daß es 109 Schleifkotten auf Solinger Gebiet gab. Um 1826 waren es immerhin noch 99 Kotten, dazu kamen noch 6 Hämmer. Im gleichen Zeitraum lag auf Remscheider Gebiet die Zahl der Hammerwerke wesentlich höher, als die Remscheider Schleifkotten. Hier beginnt schon die Vielfalt der verschiedenen Produktionszweige im Bergischen Land. Der Grund des Umkehrverhältnisses zwischen Solingen und Remscheid wird aus nicht erklärbaren Gründen in der Geschichtsschreibung so gut wie nie genannt. Obwohl doch bekannt ist, dass Solingen die Stadt der Schneidwaren und Remscheid die der Werkzeuge ist. Wie bereits erwähnt, war die Wasserzufuhr notwendig zur Betreibung der Kotten. So wird auf einer Skizze (um ca. 1700) deutlich, dass sich die Kotten gleich wie Stecknadelköpfe an Bachläufen und der Wupper aneinanderreihten. In den heutigen Solinger Stadtteilen Ohligs, Merscheid und Wald waren es weniger Kotten, in der Südstadt und zur Wupper hin wesentlich mehr. Eine Ausnahme bildet der Papiermühlenbach. Hier zählt man an einem eigentlich kurzen Bachlauf ganze 9 Kotten. Kommen wir nun zu urkundlich früh erwähnten Kotten. Bis 1484 läßt sich die Kotten Geschichte in Solingen zurückverfolgen. Hier wird ein Kotten an der Itter (in Solingen Lochbach genannt) erwähnt. Im Jahre 1504 findet der Balkhauser Kotten seine erste Erwähnung. Gehen wir kurz zu einem bemerkenswerten Vergleich über. Nicht nur in Solingen wurden Schneidwaren in Kotten produziert. Zu diesem Vergleich gehören auch die Artikel im MESSER MAGAZIN über die Geschichte der Laguiole Produktion. Auch in anderen Ländern ging man diesem Handwerk schon früh nach. So auch in der englischen Klingenmetropole Sheffield. Hier wurde um 1700 in 400 Kotten (es waren Einmannbetriebe) gearbeitet. Fr üher war Sheffield ein wirklich beachtenswerter Konkurrent Solingens. Auch Messer aus Sheffield gingen in die ganze Welt. Die Zahl der Schleifer in Solinger Kotten lag wesentlich höher. Im Itterkotten gab es bis zu 20 Schleifer, im Balkhauser Kotten arbeiteten im 19. Jahrhundert bis zu 50 Mann. Der Kotten, nahe der Ortschaft Balkhausen, war allerdings ein Doppelkotten, an den Bachläufen waren es immer Einzelkotten. Ausführlichen Raum zeigt die Geschichtsschreibung bei der Namensgebung der Kotten. Die Namen der Kotten lassen sich oft auf ihre Besitzer ableiten. So wechselten die Namen der Kotten im Laufe der Zeit nicht selten. Es gab alleine sechs Linders Kotten. Der Solinger Geschichtsforscher und Autor Heinz Rosenthal bemerkt hierzu sehr treffend: Man konnte die Kotten nur unterscheiden, wenn man gleichzeitig die Bachläufe nennt, an denen diese Werkstätten lagen. Wenden wir uns nun einigen wichtigen Begriffen der Kotten Geschichte zu. Zum Aufbau und den technischen Funktionen eines typischen Solinger Kottens, zur Beschreibung der traditionellen Herstellung der Solinger Scheren und Klingen, sowie den Lebensgewohnheiten der Kottenschleifer, lehnen wir uns an die Geschichte des Balkhauser Kottens an.
Oberhalb des bis 1950 bestehenden Doppelkottens wurde die Wupper durch ein Wehr gestaut. Das so aufgestaute Wasser wurde durch den Graben den Rädern zugeführt. Diese Räder hatten einen Durchmesser von vier Metern, die Breite und Länge der Schaufelbretter betrug 1,5 Meter. Die Radachse, früher ein Einbaum bis zu 70 cm Dicke und 6 Meter Länge, ging ins Innere des Kottens und trieb die großen Schleifsteine über ein Zahnrad an. Zu diesen großen Schleifsteinen weiß der verstorbene Solinger Geschichtsforscher Hendrichs Bemerkenswertes zu berichten. Die Sandsteine wurden aus der Eifel über den Hitdorfer Rheinhafen nach Solingen geholt. Auf dem Pfaffenberg, oberhalb des Balkhauser Kottens, begann dann ein gefahrvolles Unternehmen der Messerschleifer. Der Waldweg wurde mit Reisig „gepolstert“ und man ließ den Stein langsam den Weg hinuntergleiten. Bis zu 60 Zentner wog immerhin einer dieser Steine. Um einen solchen Stein ins Innere des Kottens zu bringen, musste ebenfalls von den Schleifern große Anstrengung und Geschick aufgebracht werden. Ebenerdige Fenster mußten herausgebrochen werden und der Stein musste in die noch tiefer gelegene Schleifstube hineintransportiert werden. Durch Vererbung und Einheirat blieb der Balkhauser Kotten lange im Besitz der Familie Lauterjung und Meis. Das liegt bis in die Zeit des 17. Jahrhunderts zurück. Diese alten Namen jedoch ziehen sich bis in unsere heutige Zeit hinein. Und nicht selten trifft man Solinger mit diesen Familiennamen wieder im Schneidwarenhandwerk. Nicht alle Schleifer wohnten in der nahen Ortschaft Balkhausen. So kamen auch von umliegenden Höfen und Ortschaften die Männer zu ihrer Arbeit in den Kotten. Zu der schweren körperlichen Arbeit kam noch ein wesentlicher Faktor hinzu. Durch den Schleifstaub war die Sterblichkeitsrate sehr hoch und die Lebenserwartung eines Messerschleifers lag bei 35 Jahren. Diese Lungenkrankheit nannte man in Solingen die Schleifer Krankheit. Aber auch das Wetter spielte bei den Schleifern und ihren Kotten eine ganz wesentliche Rolle. So gab es auch damals schon eine existenzielle Bedrohung für die Schleifer. Durch Dürreperioden oder Eis standen die Wasserräder oft wochenlang still und es konnte in den Kotten nicht gearbeitet werden. Diese schlimme Zeit überbrückten die Schleifer mit ihrem landwirtschaftlichen Besitz. Wie ging nun in den Solinger Kotten die traditionsreiche Arbeit vor sich? Früher betrug die Lehrzeit 6 Jahre, später waren es 4 Jahre. Solinger Scheren und Messer gelangten schon früh in den weltweiten Handel und genossen besten Ruf. Es war durchaus ein berechtigter Stolz, den die Facharbeiter aus den Kotten hatten. Das nasse Schleifen am großen Stein war die Verarbeitung der Rohlinge. Dann folgte das Pliesten an einer mit Schmirgel beleimten Scheibe. Dieser Arbeitsgang verlieh dem Stück seine feine Politur und den Glanz. Zu weit müsste man ausholen, wolle man alle einzelnen Arbeitsgänge beschreiben und die Fertigung einer Schere oder eines Messers bis zum Endprodukt verfolgen. Bei einem von Hand gefertigten Rasiermesser waren es z. B. in früheren Zeiten über 70 Arbeitsgänge.
Einen aktiven Arbeitsanteil hatten aber auch die Frauen der Schleifer. Es war die Liewerfrau (Lieferfrau), die zum festen Bild der Schleifer und Kotten gehörte. In großen Körben trugen diese Frauen die fertigen Produkte zu den Kaufleuten und Fabrikanten. Eine sehr mühsame und schwere Arbeit. Immerhin wurde der bis zu 25 Kg schwere Korb, auf dem Kopf aufliegend, aus den Tälern heraus Kilometerweit getragen. Nur ein Denkmal in der Innenstadt Solingens erinnert uns heute noch an diese fleißigen Frauen. Und längst hat die Zeit auch dieses alte Handwerk und die Kotten eingeholt. Mit Beginn der Industrialisierung begann auch das Kotten sterben in Solingen. Die Technik hat Schleifer, Pliester und ihre Kotten längst verdrängt. Zwar gibt es diese Berufe nicht mehr als Lehrberufe aber Handarbeiter zur Bearbeitung von Messern werden auch heute immer noch, oder wieder, von den größeren Schneidwarenfirmen händeringend gesucht. Es gibt den Solinger Kotten nicht mehr in seiner herkömmlichen Art und Funktion, die Solinger Heimarbeiter jedoch sind noch nicht ausgestorben. Immer noch wird in einigen Kotten gearbeitet, vor allem zu musealen Zwecken. Scheibe, Band und Stein werden heute mit Strom angetrieben, aber man nennt diese kleinen Werkstätten immer noch Kotten. Auch die kleineren Lohnschleifereien mit ein bis drei Schleifern gibt es im ganzen Solinger Stadtgebiet. Hauptsächlich werden dort Arbeitsgänge wie Rückenschleifen, Ausmachen oder Abziehen getätigt. Aus den wenige alten Kotten und Mühlen, die uns noch erhalten blieben, wurden idyllische Gasthöfe oder liebevoll gepflegte Wohnhäuser. Der einzig erhaltene Doppelschleifkotten an der Wupper, der Wipper - Kotten, beherbergt heute eine Kunstgalerie, im anderen Teil des Kottens wird aber auch noch geschliffen. Der Balkhauser Kotten wurde Schleifer Museum, hat im Erdgeschoss jedoch noch eine Schleifstube in der gearbeitet wird. Schaut man den Schleifern hier bei ihrer Arbeit einen kurzen Augenblick über die Schulter, darf man es wohl als ruhenden Pol unserer so hektischen Zeit erleben. Die freundlichen Räume dieses alten Fachwerkgebäudes, das Surren der Schleifsteine und der ruhige Lauf der nahen Wupper stimmen nachdenklich.
Noch einmal erlebt man die Geschichte der Solinger Kotten für einen kleinen Moment selbst mit.
© Peter Nied
Fotos Stadtarchiv
Belegschaft des Brucher Kotten mit Tochter des Inhabers
Lieferfrau auf der Brücke zum Obenrüdener Kotten 1925
Schleifer am großen Stein
Schleifsteinbrücke am Balkhauser Kottengeschichte
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Nicole MOLINARI (Samstag, 09 Januar 2021 08:53)
Herzlichen Dank für den ausführlichen und liebevollen Bericht!
... Auch im Namen des Kuratoriums Balkhauser Kotten!